Delfine als Adoptiveltern

Sozialverhalten

Delfine als Adoptiveltern

Adoption und alloparentale Pflege bei Meeressäugern

Adoption gehört zu den seltensten Verhaltensweisen im Tierreich. Dass ein Tier nicht das eigene, sondern ein fremdes Junges aufnimmt, ist evolutionär nicht selbstverständlich und zugleich sozial herausfordernd. Umso bemerkenswerter ist es, dass auch bei Delfinen, die einen vergleichsweise hohen Energiebedarf und eine lange Aufzuchtzeit haben, einzelne Fälle beobachtet werden, in denen sie sich um fremde Kälber kümmern oder diese sogar über Jahre in ihre Familie integrieren. Welche Motivation steckt dahinter?

Adoption und alloparentale Pflege?

Unter Zahnwalen wie Delfinen, Schweinswalen, Belugas oder Pottwalen ist es nicht ungewöhnlich, dass Weibchen sich gegenseitig bei der Aufzucht unterstützen. Junge Tiere werden hierbei zeitweise anderen erfahrenen Weibchen überlassen, die sie begleiten, beschützen oder sogar mitversorgen, wenn sie selbst Nachwuchs haben oder tragend sind. Solche Formen der gegenseitigen Betreuung gehören zum normalen Sozialverhalten vieler Arten. 

Ganz anders verhält es sich jedoch bei einer Adoption, auch weil die Versorgung eines Kalbes für die Mutter einen großen Energieaufwand darstellt. Zudem fehlt es an etwas eklatantem: der typische biologischen Nutzen, der durch eigene Nachkommen entsteht.

 

Um derartige Fälle richtig einordnen zu können, ist es hilfreich, zunächst die Begriffe alloparentale Pflege und Adoption voneinander abzugrenzen. Erst diese Unterscheidung macht deutlich, wie außergewöhnlich die wenigen dokumentierten Adoptionen im Leben wild lebender Delfine wirklich sind.

1) Bei der alloparentalen Pflege kümmert sich ein erwachsenes Individuum zeitweise um ein fremdes Jungtier. Dazu gehören:

  • Schutz vor Fressfeinden
  • Begleitung beim Schwimmen
  • Soziale Integration
  • gelegentliches „Positionieren“ des Jungtiers zum Nuckeln (ohne dass Milch fließt)

2) Von Adoption sprechen Forscher:innen, wenn:

  • die Pflege langfristig erfolgt (Monate bis Jahre)
  • das fremde Kalb in die soziale Einheit fest integriert wird
  • die Pflegemutter in Ressourcen wie Milch, Energie und Schutz investiert
  • das eigene Kalb (wenn existent) weiter versorgt wird 

PRAXISBEISPIELE AUS DER FELDFORSCHUNG

Adoption und alloparentale Pflege lassen sich am besten anhand gut dokumentierter Feldbeobachtungen verstehen. Die folgenden Fallstudien zeigen die Bandbreite solcher Interaktionen und verdeutlichen, wie selten dieses Verhalten im natürlichen Kontext ist.

Delfinmutter + eigenes kalb + adoptiertes Kalb

Deutlich zu sehen: Die beiden Kälber der Delfinmutter sind nicht artverwandt; es handelt sich um einen Großen Tümmler und um einen Breitschnabeldelfin.
Foto: Screenshot Vimeo

Der bislang am besten dokumentierte Fall ereignete sich 2014 in Französisch-Polynesien: Ein weiblicher Großer Tümmler wurde zunächst mit ihrem ersten eigenen Kalb beobachtet. Zwei Monate später schloss sich ein neugeborener männlicher Breitschnabeldelfin (auch Melonenkopfdelfin oder Melon-headed Whale genannt) dem Mutter-Kalb-Paar an. Diese ungewöhnliche Verbindung hatte mehr als drei Jahre bestand, bis das Adoptivkalb vollständig entwöhnt war.

Nicht nur dieses Verhalten war außergewöhnlich, sondern auch die Tatsache, dass der Große Tümmler gleichzeitig zwei Kälber versorgte. Die Belastungen beim Säugen waren nicht unerheblich, dennoch zeigten weder die Mutter noch die beiden Kälber keine Anzeichen gesundheitlicher Beeinträchtigung. Dokumentiert wurden zudem enger Sozialkontakt des Adoptivkalbes zur Delfingruppe sowie typische Verhaltensweisen des Lernens und Spielens (zum Video).

Die Forscher:innen gehen davon aus, dass mehrere Faktoren diese außergewöhnliche Adoption begünstigt haben könnten. Dazu zählt die fehlende Erfahrung der erstmals gebärenden Delfinmutter ebenso wie individuelle Verhaltensmerkmale, die sie besonders empfänglich für das fremde Kalb gemacht haben. Eine weitere mögliche Schlüsselfunktion hatte die auffällige Hartnäckigkeit des Breitschnabeldelfin-Kalbes: Es suchte immer wieder aktiv die Nähe der Mutter und hielt den Kontakt über längere Zeit aufrecht. Dieses Verhalten trug vermutlich wesentlich zum Zustandekommen und zur Dauer der Adoption bei.

Delfinmutter + verwaistes Kalb

“Adoptiertes Delfinbaby” vor japanischer Küste: (a) mit leiblicher Mutter (b) mit Adoptivmutter 
Fotos: Nana Takanawa, Mai Sakai

Anders verlief der Fall eines Delfinbabys 200 Kilometer südlich von Tokio, das im Alter von knapp zwei Monaten seine Mutter verlor und überraschend von einem fremden, genetisch nicht verwandten Delfinweibchen adoptiert wurde – einem acht Jahre alten Indo-Pazifischen Großen Tümmler (wir berichteten). Wenige Tage nach dem Tod der eigenen Mutter (verstorben in einem Fischernetz) tauchte das Jungtier eng an der Seite dieses Weibchens auf, das selbst nie Nachwuchs gehabt hatte.

Erstaunlich war hierbei, dass die Adoptivmutter, obwohl sie weder trächtig war noch je ein eigenes Kalb geboren hatte, kurz nach der Adoption begann, Milch zu produzieren und das Jungtier zu säugen. Zwar konnte sie die leibliche Mutter nicht vollständig ersetzen (das Baby nahm etwas ab), doch die Bindung hielt. Insgesamt dauerte die Beziehung 102 Tage, bis die Adoptivmutter wieder allein war. Was aus dem Adoptivkind wurde, ist nicht bekannt.

Pottwal-Schule + Großer Tümmler

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2013 wurde auf den Azoren beobachtet, wie eine Pottwalgruppe einen körperlich beeinträchtigten Großen Tümmler ungewöhnlich eng in ihre Gemeinschaft einband.

Auf den Azoren wurde 2013 ein bemerkenswerter Fall dokumentiert, bei dem eine Gruppe von Pottwalen einen Großen Tümmler mit Handicap in ihre soziale Gemeinschaft aufnahm. Der Delfin mit stark gekrümmter Wirbelsäule durfte sich eng an erwachsene Tiere anschmiegen und schwamm häufig in einer Position, wie sie sonst nur Pottwalkälbern vorbehalten ist. Auch bei der Nahrungssuche schien er von der Gruppe unterstützt zu werden. Für eine Wal-Art, die gegenüber Delfinen üblicherweise eher distanziert ist, stellt dieses Verhalten eine Ausnahme dar. Wissenschaftler:innen interpretieren diese enge Bindung als Form der interspezifischen Fürsorge, die einer Adoption nahekommt und zeigt, wie flexibel und sozial offen Pottwale in besonderen Situationen agieren können.

Orca-Weibchen + Pilotwal-Kalb

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2021 wurde vor der Küste Islands ein Orca beobachtet, der ein wesentlich kleineres Pilotwal-Kalb in enger Echelon-Position mit sich führte.

Ein noch relativ junger Fall aus dem Jahr 2021 beschreibt die Beobachtung eines Orcas vor der Küste Islands, der ein deutlich kleineres Pilotwal-Kalb begleitete. Forschende vermuten, dass es sich um den ersten dokumentierten Fall handeln könnte, in dem eine Schwertwal-Dame ein Kalb einer anderen Walart fürsorglich betreute. Möglicherweise bestand die Absicht, es zu adoptieren. Wichtiger Hinweis hierauf war, dass das Jungtier in enger „Echelon“-Formation hinter dem Orca schwamm. Dabei handelt es sich um eine Schwimmformation, die es dem Kalb ermöglicht, weniger Energie für die Fortbewegung aufwenden zu müssen.

Nichtsdestotrotz war der junge Pilotwal stark abgemagert und die Orca-Dame hatte selbst nie eigenen Nachwuchs, weshalb es fraglich ist, ob sie ihren Schützling hätte säugen können. Das spätere Schicksal des kleinen Pilotwals ist unbekannt.

Warum adoptieren Delfine?

Adoptionen unter Meeressäugern sind bislang nur in wenigen Einzelfällen wissenschaftlich dokumentiert, was vor allem daran liegt, dass solche Ereignisse selten sind und oft nur zufällig beobachtet werden. Viele Populationen werden nicht kontinuierlich beobachtet, sodass kurzzeitige oder nicht eindeutig interpretierbare Adoptionsereignisse unentdeckt bleiben. Auch ist bislang nicht geklärt, welche Bedeutung Faktoren wie der Verlust eines eigenen Jungtiers, sozialer Stress oder Störungen durch menschliche Aktivitäten haben könnten.

Nichtsdestotrotz können einzelne Schlüsse gezogen werden. Im Falle des adoptierten Delfinkalbs vor der Küste von Japan erklärten wir in einem früheren Beitrag, dass Große Tümmler die Voraussetzungen der “Theory of Mind” erfüllen, also der Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren und sich in Bewusstseinsvorgänge und die Gedankenwelt anderer Lebewesen hineinzuversetzen. Die wahrscheinliste Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten der Adoptivmutter ist somit, dass sie die Not des kleinen Delfins erkannt und sich aus Mitgefühl oder durch von ihm geweckte Muttergefühle seiner angenommen hat.

Mit Blick in die Zukunft könnten Fortschritte in der Drohnenforschung, der Fotoidentifikation und im Langzeitmonitoring dazu beitragen, dieses bislang nur wenig erschlossene Kapitel des Verhaltens von Delfinen und Walen deutlich besser zu verstehen.

 

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