Update: Begegnungen von Orcas mit Segelbooten

Weshalb greifen Orcas Segelboote und Yachten an?
Bereits im vergangenen Sommer haben Orcas vor der spanischen und portugiesischen Süd-Küste mehrere Segelboote gerammt. Seit März 2021 wiederholt sich dieses Phänomen, allerdings mit einer deutlich höheren Intensität. Welche Gründe sind für dieses außergewöhnliche Verhalten der Schwertwale verantwortlich? Wir haben die möglichen Ursachen zusammengefasst.
Die Interaktionen der Orcas: Was wir bis dato wissen
Im Juli 2020 wurde vor der Küste von Cádiz die erste Begegnung von einem Orca mit einem Segelboot dokumentiert. Im weiteren Verlauf haben sich sechs Vorfälle in der Straße von Gibraltar ereignet, vier vor der Küste Portugals und weitere 16 im Nord-Westen der Iberischen Halbinsel. Seit März 2021 wiederholen sich die Vorgänge, allerdings in weitaus höherer Zahl. Am 5. August meldeten die spanischen Behörden 56 Angriffe, 25 Segelboote und Yachten wurden von den Orcas derart stark beschädigt, dass die Besatzungen Hilfe von der Küstenwache anfordern mussten. Teilweise werden die Boote mit einer solchen Wucht getroffen, dass sie sich um 180 Grad drehen.
Im Video: Die Bootsbesatzung filmt, wie Orcas um und unter das Segelboot schwimmen und dabei das Ruder ins Visier nehmen.
Bei ihren Angriffen auf die Boote haben es die Meeressäuger insbesondere auf die Ruder abgesehen. Diese werden sowohl gerammt als auch abgebissen. Darüber hinaus werden auch Rumpf und Kiel von den Orcas ins Visier genommen; die Angriffe auf ein einzelnes Boot dauern nicht selten über eine Stunde. Durch ihre Größe und ihr Gewicht von bis zu 3,6 Tonnen wäre es den Schwertwalen ohne weiteres möglich, das gesamte Boot zum Kentern zu bringen. Einen solchen Vorfall hat es bis dato allerdings nicht gegeben.
In den Wintermonaten wurden keine Zwischenfälle gemeldet. Dies liegt daran, dass sich die Orcas zu dieser Jahreszeit im Nord-Atlantik befinden und erst ab März zur Küste der Iberischen Halbinsel zurückkehren.
Sie sind auf der Jagd nach dem Roten Thunfisch (Thunnus thynnus) , der im Juli durch die Straße von Gibraltar zieht, um im Mittelmeer zu laichen (siehe nebenstehenden Info-Kasten).
Was wir vermuten können:
Das untypische Verhalten der Orcas gibt den Wissenschaftlern weltweit Rätsel auf. Bis heute gibt es keine belegbare Erklärung, wohl aber wurden verschiedene Thesen geäußert. Nachfolgend sind jene aufgelistet, die eine Plausibilität erkennen lassen:
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Spieltrieb: Verschiedene Forscher haben Erklärungen dahingehend geäußert, dass speziell Jung-Tiere mit den Rudern der Boote spielen wollen. Das Ruder bewegt sich unter Wasser und könnte dadurch die Aufmerksamkeit der Orcas auf sich ziehen. Der Meeresbiologe und Delfinforscher Bruno Díaz sagte gegenüber der „AP“: „Die Schäden sind wahrscheinlich von ‚unreifen Teenager-Orcas‘ verursacht worden, die rüpelhaft werden. Vielleicht haben diese Orcas einfach Spaß daran, Schaden anzurichten.“
- Jagdtechnik: Auf einige der betroffenen Segler machte es den Eindruck, als würden ältere Tiere den jüngeren etwas beibringen wollen. Diese Aussage passt zur Auffassung der Nichtregierungsorganisation „Wewhale“, die ebenfalls den Jagdtrieb als Ursache anführt. Demnach befinden sich die Schwertwale seit Jahrhunderten in der Bucht vor Cádiz auf der Suche nach dem Roten Thunfisch. Die jetzt erfolgten Kollisionen mit Booten seien „Wewhale“ zufolge nicht als Angriff zu verstehen, sondern eine Vorgehensweise der Schwertwale, ihre Jagdtechnik zu perfektionieren.
- Folge der Pandemie: Die auf Meeressäuger spezialisierte Biologin María del Carmen Rodríguez vertritt die Ansicht, dass das ungewöhnliche Verhalten der Tiere eine Folge der Corona-Pandemie sein könnte. Demnach hätten sich die Tiere möglicherweise an die Ruhe in den Meeren gewöhnt, die der monatelange Lockdown mit sich brachte. Nach Ansicht der Biologin könnte der wieder zunehmende Schiffsverkehr und die damit verursachte Lärmentwicklung die Meeressäuger möglicherweise gestresst und aufgebracht haben.
- Zwischenfall mit Boot: Dass eine Interaktion mit einem Segelboot Auslöser für das mysteriöse Verhalten der Orcas ist, daran glaubt die Meeresbiologin Eva Maria Carpinelli. Es könnte beispielsweise eine negative Situation mit einer Yacht gewesen sein, die den Orcas in Erinnerung geblieben ist. „Man muss bedenken, dass es sich um sehr soziale Tiere mit einem hohen Maß an Interaktion handelt. Diese Tiere lernen auf kultureller Ebene von einem Individuum zum anderen. Irgendetwas ist passiert – sie haben untereinander kommuniziert und gehen jetzt intensiv gegen die Segelboote vor“, so die Biologin gegenüber der „Welt“.
Der galizische Meeres-Biologe Ezequiel Andréu unterstützt die Theorien zum Spieltrieb und zur Jagd, stellt aber gleichzeitig klar: „Wenn das, was sie tun, für die Orcas erfolgreich ist, werden sie es behalten.”
Hintergrund: Orcas ohne Leibspeise – der Raubbau der Fischindustrie am Roten Thunfisch
An der Straße von Gibraltar passen die Orcas alljährlich den Roten Thunfisch ab, der im Juli und August von seinen Laichplätzen im Mittelmeer zurück in den Atlantik schwimmt. Die Ausbeute der Schwertwale wird allerdings von Jahr zu Jahr geringer, da hocheffiziente Netzsysteme der spanischen Fischer den Populationsbestand kontinuierlich sinken lassen. Bereits 2018 berichtete die GRD auf Basis der Studie „Worldwide Distribution and Abundance of Killer Whales“ darüber, dass es vermutlich in wenigen Jahren keinen Roten Thuna mehr in der Straße von Gibraltar geben wird. Eine Folge, die schon vor drei Jahren festgehalten wurde: Das Jagdverhalten der Orcas in der Meerenge von Gibraltar wird sich zwangsläufig ändern. Weitere Infos finden Sie hier: Das Jagdverhalten der Orcas in der Straße von Gibraltar
Was gegen die Interaktionen getan wird:
Bei Angriffen von Schwertwalen empfiehlt die spanische Küstenwache unter anderem den Motor abzuschalten, die Segel einzuholen und den Autopilot auszuschalten. Auch solle sich die Besatzung nicht der Reling nähern oder gar versuchen, die Tiere zu verscheuchen. Darüber hinaus hat die spanische Regierung Sperrzonen für besonders betroffene Gebiete eingerichtet. So beispielsweise für Boote unter einer Länge von 15 Metern Länge zwischen Cape Trafalgar und dem südspanischen Hafenort Barbate.
Aktualisierung vom 13.10.2022: Zahl der Zwischenfälle von Orcas auf Segelboote weiterhin auf hohem Niveau
Auf Nachfrage hat uns die Organisation Grupo de trabajo Orca Atlántica, die sich an der iberischen Küste für gefährdete Kleinwale einsetzt, mitgeteilt, dass es im Jahr 2022 insgesamt 170 Zwischenfälle von Orcas mit Segelbooten vor der spanischen und portugiesischen Atlantikküste gab. Im vergangenen Jahr wurden 185 Interaktionen gemeldet, 2020 waren es 51. Bei rund 20 Prozent dieser Zwischenfälle gab es einen schwerwiegenden Schaden wie beispielsweise die Zerstörung der Ruderblätter durch die Schwertwale.
Bei den aktuellen Zahlen handelt es sich noch nicht um die abschließenden Werte für 2022. Allerdings konnte in den vergangenen Jahren beobachtet werden, dass mit der Wanderung der Orcas in den Nordatlantik während der Herbst- und Wintermonate die Interaktionen spürbar abnehmen.
Aktualisierung vom 2.8.2022: Segelboot sinkt bei Orca-Begegnung
Seit 2020 werden auf Orcaiberica.org alle Zwischenfälle von Orcas mit Segelbooten an der iberischen Küste dokumentiert. Auf diesen „Interaction Maps“ ist ersichtlich, dass es auch in diesem Jahr wieder zu einigen Begegnungen gekommen ist. Letztere haben durch das Sinken eines Segelboots vor der portugiesischen Küste am 31. Juli, bei der fünf Personen aus Seenot gerettet werden mussten, eine neue Dimension erreicht. Einem Bericht der portugiesischen Marine zufolge haben Orcas, auch Schwertwale genannt, das Segelboot während der Nacht derart stark beschädigt, dass es elf Kilometer vor der Küste von Sines gesunken ist. Die Besatzungsmitglieder konnten sich rechtzeitig in ein Beiboot retten und wurden kurze Zeit später von einem Fischkutter an Bord genommen. Der Notruf ging kurz nach Mitternacht bei der Küstenwache ein, die den Einsatz koordinierte. Weitere Details zum Unfall wurden noch nicht bekanntgegeben.
Einem Statement der portugiesischen Marine zufolge seien die Zwischenfälle hauptsächlich auf das neugierige Verhalten der jungen Schwertwale zurückzuführen. Diese werden von den sich bewegenden Teilen der Schiffe sowie von Lärm angezogen. Aus diesem Grund sei im Falle einer Sichtung der Motor abzuschalten und die Ruderklappe zu verriegeln, um so die Interaktion der Orcas mit den beweglichen Strukturen der Boote zu verhindern.
Aktualisierung vom 20.12.2022: Hilft feiner Sand gegen Orca-Begegnungen?
Einem Bericht der Zeitschrift „Yacht“ zufolge könnte es eine Möglichkeit geben, die Orcas mit einfachen Mitteln von einer Begegnung mit Segelboote abzuhalten. So hat die Crew einer schwedischen Yacht auf Anraten von portugiesischen Fischern feinen Sand ins Wasser gestreut, nachdem die Schwertwale das Ruderblatt des Segelboots berührt hatten. Die Interaktionen der Orcas hörten daraufhin abrupt auf und die Tiere zogen ab. Nach Aussage der Crew würden die Schwertwale instinktiv sandiges Wasser meiden, um ihre Atemlöcher zu schützen.
Ob diese Maßnahme einen Lösungsansatz darstellen kann, um den Orca-Begegnungen vor der Küste der iberischen Halbinsel Einhalt zu verhindern, ist derzeit noch offen. Eine entsprechende Anfrage bei Alfredo López von der Organisation Grupo de trabajo Orca Atlántica (GTOA), die sich an der iberischen Küste für gefährdete Kleinwale einsetzt, wie folgt: „Wenn die Orcas von dem mit Wasser versetzten Sand wegschwimmen, hat das nichts damit zu tun, dass sie denken, der Sand könne durch ihre Nasen eindringen.“ Der Orca-Experte ist vielmehr der Ansicht, dass der Sand die Dichte des Wassers verändert und einen Spiegeleffekt in der Bioakustik erzeugt. Dies sei aber nur eine Theorie. Lopez informiert weiterhin darüber, dass die Aktivitäten der Crews während einer Begebnung keinerlei Einfluss darauf haben, ob die Orcas bleiben oder wegschwimmen.
Aktualisierung vom 17.01.2023: Buch über Orca-Interaktionen erschienen
In seinem Anfang Januar erschienen Buch hat sich der Autor, Filmemacher und Segler Thomas Käsbohrer der Thematik um die Interaktionen der Orcas mit Segelbooten angenommen. In „Das Rätsel der Orcas“, das im Verlag Millemari erschienen ist, gibt Käsbohrer seine Gespräche mit betroffenen Seglern, Meeresbiologen, Naturschützern und Tierpsychologen wieder und geht der Frage nach dem „Warum“ nach: Verteidigen die Orcas ihren Lebensraum vor den Fischern, die ihre Nahrungsgrundlage, den Blauflossen-Thunfisch, an den Rand der Ausrottung gebracht haben? Wehren sie sich gegen die Verdrängung aus einem Lebensraum, der der ihre ist? Oder ist es für die Schwertwale vielleicht alles nur ein Spiel?
Das Buch ist ab 16,95 Euro als Hörbuch, E-Books oder Taschenbuch erhältlich. Weitere Infos und Bestellung beim Verlag.
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