Schwertwale: Trauernde Orca-Mutter trägt totes Baby zu Grabe
Gemeinsames Trauerverhalten einer Orcafamilie berührt Menschen weltweit
Nur ein paar Stunden Leben, das war alles, was dem Baby von Tahlequah blieb. Am 24. Juli entdeckten Forscher des Center for Whale Research in Friday Harbor (San Juan Island zwischen Vancouver und Seattle), wie das auch J35 genannte Orcaweibchen ihr totes Baby vorsichtig und ganz fürsorglich auf ihrer Schnauze balancierend vor sich her schob. Nahe bei J35, die der vom Aussterben bedrohten Population der “Southern Resident”-Orcas (Southern Residents) angehört, schwammen die anderen Schwertwale ihrer 23-köpfigen Familie (Pod), standen ihr bei in ihrem Trauerverhalten.
Berührendes Beispiel für gemeinschaftliches Trauerverhalten bei Delfinen
Was dann folgte, ist wohl eines der eindrucksvollsten Beispiele für gemeinschaftliches Trauerverhalten bei Delfinen. Mehr als sechs Tage lang beobachteten die Wissenschaftler den Trauerzug der Schwertwale. Dann, Anfang August, änderte sich ihr Verhalten. Hatte sich bis dahin nur Tahlequah um ihr totes Baby gekümmert, übernahmen jetzt auch andere Schwertwale aus dem Pod das anstrengende Tragen und Schieben des kleinen Körpers, der durch das kalte Meerwasser lange intakt bleibt.
Am 09. August waren es bereits 16 Tage der gemeinsamen Trauer! „Es bricht einem das Herz, das mitanzusehen“, sagt Michael Milstein von der Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde der USA (NOAA) auf CNN. „Eine derart lang anhaltende Trauer wurde niemals zuvor beobachtet.”
Update v. 12. August 2018:
Talequah hat endlich losgelassen, ihr namenloses Orca-Baby seinem nassen Grab übergeben. “Nach mindestens 17 Tagen und einer Strecke von 1 000 Meilen, über die Tahlequah ihre schwere Last getragen hat, ist die Tortur vorbei, Gott sei Dank”, erklärt Ken Balcomb, Gründer des Center for Whale Research, gegenüber der Seattle Times vom 11. August 2018.
Tahlequah (J35) hatte nach der erfolgreichen Geburt eines männlichen Kalbs 2010 seither zweimal ihre Babys verloren. “Der Verlust eines weiteren Kindes muss emotional sehr hart für sie gewesen sein”, meint Balcomb.
Der Trauerzug von Tahlequah und ihrer Familie unterstreicht eindrucksvoll, dass diese Tierpersönlichkeiten Emotionen von ungeahnter Tiefe haben. Emotionen, die menschliche Säugetiere gerne als Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch nehmen.
Newly shared drone footage of orca mother Tahlequah, or J35, taken Friday as she carried her dead orca calf along the west side of San Juan Island. (Michael Weiss, of the University of Exeter, working with the Center for Whale Research)
Stark bedroht: "Southern Resident"-Orcas
Die Southern Residents sind eine vom Aussterben bedrohte Orca-Population. Während der Sommermonate halten sie sich sehr küstennah in den Gewässern von Washington State (USA) bis ins südliche British Columbia (Kanada) auf. Wo sie im Winter sind, ist unbekannt.
Die Southern Residents wurden von Forschern in drei Familiengruppen (Pods) mit den Buchstaben J, K und L unterteilt. Im Juni 2018 war ihr Bestand auf nur noch 75 Individuen gesunken. Bedroht sind die “Southern Residents”-Schwertwale vor allem durch massive Nahrungsverknappung (der ebenfalls vom Aussterben bedrohte Königslachs macht über 80 % ihrer Nahrung aus), Meeresverschmutzung und Störungen durch Schiffsverkehr.
Der große Überlebensstress, unter dem diese Delfine stehen, spiegelt sich in ihrer hohen Jungensterblichkeit wider: fast 70 % aller Schwangerschaften bleiben erfolglos oder der Nachwuchs stirbt kurz nach der Geburt wie bei Tahlequah.
Eine Orcafamilie (Pod). Quelle: Pixabay
Trauerverhalten in Delfingesellschaften – Theroy of Mind
Trauerverhalten in Delfingesellschaften ist mehrfach dokumentiert, auch wenn es nur schwer zu beobachten ist. Horst Liebl beobachtete vor mehr als 20 Jahren im Persischen Golf eine Gruppe von Buckeldelfinen bei einem ganz ähnlichen Trauerzug, wie ihn jetzt der J-Pod der Southern Residents zeigt. Die Buckeldelfine schienen damals sogar auf einen speziellen Delfinfriedhof, eine kleine Insel, zuzusteuern.
Beim Trauerverhalten zeigen die Tiere ausgeprägte Fürsorge- und Abschiedsgesten, wie man sie z. B. von Gorillas, Schimpansen, Elefanten oder Menschen kennt. Delfine besitzen eine „Theory of Mind“: Sie sind sich ihrer selbst bewusst und können sich in die Gefühls- und Gedankenwelt ihres Gegenübers versetzen – bis in den Tod.
Foto oben: Mit freundlicher Genehmigung von Robin W. Baird (Cascadia Research Collective). Die Aufnahme stammt aus 2010 und zeigt das Orcaweibchen L72 der Southern Residents bei ihrer Trauer um ihr verstorbenes Jungtier.
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